Tag der Solidarität
Wir erinnern an
Mehmet Kubaşık, Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.
Wir erinnern und wir kämpfen – Aufruf zum 11. Tag der Solidarität 2023
Am 4. April 2023 jährt sich der Mord an Mehmet Kubaşık zum 17. Mal. Der beliebte Dortmunder Kioskbetreiber wurde 2006 in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße als achtes Opfer in der rassistischen Mordserie des NSU erschossen. Gamze Kubaşık beschreibt ihren Vater als „den besten Mensch, den sie je kannte.“ Seine Frau Elif sagt, ihre Kraft schöpft sie nach wie vor aus der Beziehung mit Mehmet. Seit 2012 erinnern wir als Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund gemeinsam an ihn und alle Opfer rechten, rassistischen und antisemitischen Terrors.
Elf Jahre, in denen wir viel mit- und voneinander gelernt haben. Wir hinterfragen gesellschaftliche Erinnerungspolitiken und fordern ein plurales Erinnern, das Zuhören, Anerkennen, Aufklären, Wissen, sich Verbünden, Ermöglichen und Verändern heißt – am 4. April und darüber hinaus.
Erinnern heißt Zuhören.
Überlebende, Angehörige und Initiativen arbeiten seit Jahrzehnten unermüdlich daran, dass die Geschichten Betroffener rechter Gewalt gehört werden und Teil des deutschen Erinnerungsnarrativs werden. Betroffene sind die „Hauptzeugen des Geschehenen“ (İbrahim Arslan) und keine Statist*innen. Ihre Stimmen sind es, die gehört werden müssen, ihre Geschichten sind es, die erzählt werden müssen.
„Wir wollten nichts Unmögliches. Wir wollten, dass Sie uns ernsthaft zuhören, uns, die schon vor allen anderen ahnten, dass hinter den Morden Nazis stecken.“
Elif Kubaşık 2020
Erinnern heißt Anerkennen.
Erst mit der Selbstenttarnung des NSU 2011 wurde die rassistische Mordserie auch in der Mehrheitsgesellschaft von Politik und Behörden als rechter Terror anerkannt. Jahrzehntelang mussten Angehörige dafür kämpfen, obwohl sie schon früh Rassismus als Motiv benannten. Auch heute werden bei weitem nicht alle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt offiziell anerkannt, viele Taten nicht weiter aufgeklärt.
Erinnern heißt Aufklären.
In Dortmund sind zwölf Jahre nach der Selbstenttarnung immer noch zentrale Fragen offen: Warum Mehmet Kubaşık? Wer waren die Unterstützer*innen des rassistischen Netzwerks? Was wusste der Staat? Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz? Diese Fragen wurden weder im Prozess noch in den Untersuchungsausschüssen beantwortet. Auch der geleakte NSU-Geheimbericht des hessischen Verfassungsschutzes im Herbst 2022 hat inhaltlich keine neuen Erkenntnisse gebracht – jedoch dessen desaströse Arbeit öffentlicher gemacht. Verschwundene Akten, fehlende Analysen, zigfach unbearbeitete Hinweise auf schwerbewaffnete Neonazis zeigen erneut, wie sehr die Behörde gemauert, geschwiegen, verweigert hat, die von Neonazis ausgehende Gefahr zu erkennen und zur Aufklärung der rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie beizutragen. Aufklären heißt, die Täter*innen, die Helfer*innen, auch in Dortmund, aufzudecken, und alle Informationen öffentlich zu machen.
„Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die Akten den Anwälten übergeben werden […] Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“
Gamze Kubaşık, 2021
Erinnern heißt Wissen.
Vernichtete oder jahrzehntelang verschlossene Akten zum NSU-Komplex tragen auch dazu bei, dass das Wissen um die rassistischen Morde und das Versagen des Staates aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt wird. Ohnehin sind die lange Geschichte rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland nach 1945 sowie die Namen der Opfer in der Dominanzgesellschaft kaum bekannt. Es sind bisher vor allem die Angehörigen und Überlebenden selbst, die, wie Gamze Kubaşık, diese Geschichten erzählen und verdeckte Spuren freilegen. Dabei sprechen sie auch über eine Gegenwart, die nach wie vor von Rassismus, Antisemitismus und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen geprägt ist. Dies kann jedoch nicht allein in ihrer Verantwortung liegen! „Erinnern heißt Wissen“ bedeutet, die Archive zu öffnen und vor allem die Erfahrungen und Perspektiven der Betroffenen zu festen Bestandteilen des Schulunterrichts zu machen.
Erinnern heißt Sich Verbünden.
Zehn Menschen wurden vom NSU ermordet, viele weitere durch Bombenanschläge schwer verletzt. Statt den Angehörigen zuzuhören, richteten die Behörden die Ermittlungen gegen sie. Nach den Morden in Dortmund und Kassel im Jahr 2006 schlossen sich Angehörige zusammen und gingen auf die Straße. Gemeinsam mit hunderten Menschen forderte Familie Kubaşık auch in Dortmund „Kein 10. Opfer“ und ein Ende der rassistischen Ermittlungen. Die Taten des NSU-Komplex stehen in einer Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, die in Deutschland nie aufgehört hat. Aber die vielen Ortsnamen, die für unermessliches Leid stehen, verbinden sich auch mit den Kämpfen von Angehörigen und Überlebenden. Sie beziehen sich darin aufeinander, stärken sich gegenseitig und stellen gemeinsame Forderungen nach Anerkennung, Aufklärung und Erinnerung. Initiativen vernetzen sich inzwischen bundesweit und kämpfen gemeinsam für Gerechtigkeit und eine solidarische Gesellschaft der Vielen.
Erinnern heißt Ermöglichen.
Erinnern heißt Ressourcen für ein Gedenken bereitstellen, über das die Angehörigen der Opfer bestimmen. In Dortmund gibt es ein Mahnmal, einen Gedenkstein und einen nach Mehmet Kubaşık benannten Platz. Wir fordern die unbürokratische Bereitstellung von Ressourcen durch die Bezirksvertretung zur Umgestaltung des Mehmet-Kubaşık-Platzes nach den Vorstellungen der Familie. Eine weitere Forderung der Familie Kubaşık ist die Errichtung eines dauerhaften Gedenkortes in der Nordstadt als Raum zur Begegnung, zum Austausch und zur gemeinsamen Trauer und um Wissen über den NSU-Komplex zu vermitteln.
Erinnern heißt Verändern.
Wir schließen uns den Forderungen der Hinterbliebenen und Angehörigen uneingeschränkt an:
Umfassende Auseinandersetzung mit strukturellem und institutionellem Rassismus auf allen Ebenen
Anerkennung von Betroffenen als Akteur*innen und ihrer vielfältigen Perspektiven & Geschichten
Thematisierung von rechter Gewalt als Teil der deutschen Geschichte
Aufklärung und Konsequenzen
Weitere Ermittlungen insbesondere zu den lokalen Unterstützer*innen
Solidarität statt Schlussstrich!
Geht mit uns gemeinsam auf die Straße: Am 4. April 2023, 17:00 Uhr, Mallinckrodtstraße 190
In Erinnerung an Mehmet Kubaşık und alle Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt!
Schulter an Schulter gegen Faschismus und Rechtsruck!
Niemand wird vergessen – hiç unutmadık, hiç unutmayacağız!
Weitere Termine:
30.03. um 18:30 Uhr Ausstellung – THE VIOLENCE WE HAVE WITNESSED CARRIES A WEIGHT ON OUR HEARTS im Dietrich-Keuning-Haus
31.03. um 19:00 Uhr PODIUM – Warum kein Schlussstrich? mit Gamze Kubaşık und Semiya Şimşek im nordpol, Bornstr. 144 in Dortmund
07.05. ab 14:00 Uhr Mehmet Kubaşık Kinderfest auf dem Mehmet-Kubaşık-Platz
www.betterplace.me/hilfe-fuer-hanobasi-und-familie-kusbasik
Anfang Februar erschütterte ein schweres Erdbeben die Türkei und Syrien. Auch das Heimatdorf der Familie Kubaşık wurde getroffen. Die Gebäude sind größtenteils zerstört. Leider ist auch das Grab von Mehmet Kubaşık getroffen. Wir rufen dazu auf, die Familie mit einer Spende zu unterstützen um das Grab wieder herrichten zu können.