Wie gestalten wir solidarisches Gedenken?
Zur Aktualität multidirektionaler Erinnerung
Vor 15 Jahren veröffentlichte der Literaturwissenschaftler und Holocaustforscher Michael Rothberg sein einflussreiches Buch Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Darin beschreibt er Politiken des Gedenkens, die einer Ethik und Methode des In-Beziehung-Setzens folgen, die nicht auf Relativierung oder Konkurrenz, sondern auf Solidarität zielen. Statt die Erinnerung einer spezifischen Gewalterfahrung gegen eine ‚kompetitive‘ andere abzuwägen, ermöglicht Rothberg zufolge, ein solches In-Beziehung-Setzen der Komplexität differenzieller und globaler Gewaltgeschichten gerechter zu begegnen.
Uns scheint der erst 2021 ins Deutsche übersetzte Band gerade heute für aktivistische Auseinandersetzung über grundsätzliche Fragen gemeinsamer, solidarischer (Erinnerungs-)Politik relevant. Wir sehen Verbindungen zwischen Rothbergs Versuch Geschichten und Erfahrungen unerträglicher Gewalt auf eine vertretbare Weise in Verbindung zu setzen, und den Bemühungen um ein solidarisches Gedenken für verschiedene Opfer rechter, rassistischer, polizeilicher oder staatlicher Gewalt – von Hanau über Halle bis Dortmund und an die Außengrenzen Europas.
Darüber hinaus treiben uns auch innerlinke politische Auseinandersetzungen um, über die sich mit Rothberg ebenfalls nachdenken lässt: Bietet die multidirektionaler Erinnerung uns eine Grundlage, um der Entgegensetzung, ja Konkurrenz von Antisemitismus- und Antirassismuskritik, wie wir sie aktuell erleben etwas entgegenzusetzen? Oder drohen wir mit der Multidirektionalität die entscheidenden Spezifika der jeweiligen Gewalt(Geschichten) aus dem Blick zu verlieren? Inwiefern lassen sich Brücken zwischen der von Rothberg konstatierten Konkurrenz verschiedener Erinnerungen zur Konkurrenz des (Un-)Sicherheitsbedürfnisses verschiedener gesellschaftlicher Gruppen schlagen oder zu einer Hierarchisierung des Leides von verschiedenen Betroffenen von Gewalt?
Wir diskutieren das Potenzial und die Grenzen des Konzepts Multidirektionaler Erinnerung gemeinsam mit Felix Axster, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Antisemitismusforschung (TU Berlin) und Mitinitiator der deutschen Übersetzung von Multidirektionale Erinnerung. Im Anschluss an einen kurzen Vortrag gibt es ein moderiertes Podium und Möglichkeit zur gemeinsamen Diskussion.